5. März 2020

Eiskugelspiel

Bar Gabányi
Die Neugier und die Laune auf einen gepflegten Rausch leiten uns ins Viertel des Universitätsklinikums in München. Wir ziehen vorbei an scheinbar endlos aneinander gereihten Institutsgebäuden. Keine unangenehme Gegend – aber HIER soll eine der besten Bars Deutschlands angesiedelt sein? Weit und breit nichts zu merken von „in“, hippen Lokalen oder lebhaftem Treiben auf der Straße. Selbst unsere München-geborenen Begleiter verstummen zunehmend, schon insgeheim grübelnd, wohin sie uns denn nach dieser „Verirrung“ zur Entschädigung geleiten könnten. 
Wir biegen in eine unauffällige Gasse gesäumt von Gründerzeithäusern und stehen vor der Bar. Soweit, so unscheinbar. Nur die grüne Leuchtschrift bestätigt uns am Ziel zu sein. Einer flüstert beim Hinabsteigen ins Souterrain: „das Gute an dieser abgelegenen Gegend ist, dass da drin bestimmt nichts los sein wird und wir genügend …“.  Ich muss zweimal genau hinsehen, um zu erkennen, dass die markante Gestalt, die da bequem aber würdevoll am Treppenabgang hockt und raucht, eingehüllt in eine strahlend weiße Barjacke mit dem Ardbeg-Embassy Emblem und langer weißer Schürze, keine kitschige Deko ist, sondern Herr Stefan Ganbányi, Patron der namensgleichen Bar, höchstpersönlich. 
Die Bar ist voll. Die Einrichtung schlicht und gepflegt. Mit Schnickschnack braucht man sich hier nicht abzugeben. Lebhafte aber unaufdringliche Musik aus der Konserve. Das Piano hinten in der Ecke bleibt heute stumm. Wir nehmen unsere Plätze direkt an der Bar ein.  Alle Sitzgruppen und Tischchen sind besetzt – es scheint nicht so, als wolle jemand in absehbarer Zeit diesen Ort wieder verlassen. Schon nach kurzen Momenten stellt  sich unser Platz am Tresen als Pole-Position für faszinierende Einblicke in den Barbetrieb heraus. 
Am Werk ist Barkeeper Ken, der stets freundlich, umsichtig und hochprofessionell Drinks kreiert und Gäste betreut. Multitasking als Schaubeispiel. Er und das gesamte Team tragen ebenso die steril anmutende Tracht von Ardbeg-Embassy: weiße Barjacke und Schürze. Irgendwie passen sie ja doch ins hiesige Medizinerviertel…
Jeder Handgriff sitzt. Flink werden Eiswürfel aus der Wanne in Mix-Gläser geschaufelt, zahlreiche Flüssigkeiten mit größter Kunstfertigkeit und Augenmaß darüber gegossen. Geheimnisvolle Essenzen werden mit der Pipette tröpfchenweise zugesetzt. Ein kurzes fachmännisches Schnuppern an Flaschenhälsen und Rührwerkzeug – und schon kann die Komposition weitergehen. Die Ergebnisse sind optisch schlicht, bestechen aber durch geschmackliche Perfektion. Wer hier Banales wie „Malibu-Orange“ oder „Hugo“ bestellte, der würde vermutlich mit einem höflichen Lächeln und einer Lokalempfehlung in ein anderes Stadtviertel verabschiedet. 
Die Barkarte weist ausschließlich „Empfehlungen des Hauses“ auf. Wahre Genießer lassen sich jedoch vom versierten Mann hinter der Bar beraten. Nennung von ein, zwei Ingredienzien – und schon kreiert Ken Drinks, deren Namen man noch nie gehört hat. 
Outet man sich als wahrer Connaisseur – wie dies meine Begleitung  tut - und gibt somit zu verstehen, dass man keinen der bekannten Ryes sondern einen Kentucky Rye – aber vielleicht ähnlich wie Hudson Manhattan Rye haben will, wird mit einem unauffälligem Nicken der Großmeister zur Beratung hinter den Tresen gerufen. Mit knappen Worten checkt Gabányi geschmackliche Vorlieben und Erfahrungen ab und greift mit Selbstverständnis ins Flaschenregal. Präzise erklärt er die Charakteristik des Inhalts und gibt mit der Autorität eines Arztes zu verstehen, warum genau DAS das Richtige für dich ist. Und es ist. 
Nach dem Beratungsgespräch murmelt Gabányi kurze Anweisungen zu Ken und  zieht sich wieder dezent zurück um seine zahlreichen weiteren Gäste  zu betreuen. Das Charisma dieses Mannes strahlt Ruhe, Kompetenz, Mystik und Autorität aus-.  Jeder scheint hier ein Stammgast zu sein. Die Enttarnung als Kenner hat den Vorteil, dass man nun nicht mehr mit Standardeiswürfeln Vorlieb nehmen muss. Geheimnisvoll wird von Barmann Tillmann ein Whiskey-Glas aus dem Eisschrank gegriffen und kurz ins Hinterzimmer verschwunden. Das Glas enthält bei seinem Wiedererscheinen ein wunderschönes handgepickeltes, faustgroßes Stück Eis, über welches der edle Whiskey-Cocktail gegossen wird. Kann das noch überboten werden? Gabányi kann. 
Wie wollen wir da noch einen draufsetzen, grübelt er kurz. Dann die Eingebung. Ein markenloser 23 Jahre alter Vintage Rye wird aus dem verspiegelten Regal gefischt. Auch Ken kann noch einen draufsetzen. Geheimnisvoll schleicht er ins Hinterzimmer um mit einem glasklar transparenten Stück Eis in der unglaublich präzisen Form und Größe eines Tennisballs zurück zu kommen.  
Begeistert staune ich und fordere auch sofort so eine Eiskugel ein – bitte mit Gin, Limette, Ingwer und sonst irgendwas… Mit einem amüsierten Lächeln und einem „das muss man sich erst verdienen“  werde ich kühl als Bar-Rookie abgespeist. Fair enough…
Beethovenplatz 2, 80336 München


8. Februar 2020

Salamutschimann und Radiweib

Wien ist anders. Das ist bekannt. Aber warum eigentlich? Der Wiener Heurige zum Beispiel. Während wohl überall auf der Welt die Rangfolge gilt, dass man zum Essen etwas trinkt, ist es beim Wiener Heurigen genau umgekehrt - dort isst man etwas zum Trinken.


Nun gibt es wieder Grund, das Wienerherz höher schlagen zu lassen: Die Wiener Heurigenkultur wurde kürzlich in das österreichische UNESCO-Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Anlass genug, näher hinzusehen, was denn den Wiener Heurigen tatsächlich ausmacht.
Die Wiener Heurigen gehen direkt auf landwirtschaftliche Traditionen zurück. Bäuerliche Familienbetriebe durften per Dekret einfache Lokalitäten betreiben, um ihre selbst erzeugten Weine an den Mann zu bringen - das sogenannte „Leutgeben“. (Mehr dazu in den Anmerkungen unten.)

Der dem Genuss nicht abgeneigte Wiener griff dieses Angebot gerne auf. In geselliger Runde traf man sich fortan in der Vorstadt auf ein Glaserl Wein zum Gustieren, Schnabulieren und Deliberieren. Speisen wurden zumeist selbst mitgebracht.

Fliegende Verkäufer folgten dem Strom und versorgten die Leut‘ mit allerlei Kulinarischem. Der Salamutschimann verkaufte Salami, Würste und Käse von seinem Bauchladen. Das Radiweib bot Rettich und Salzgurken feil, und die Båchereifrau brachte Bäckerein und Süßigkeiten in die Gastgärten. Später etablierten sich kleine Greißler, die Heurigenproviant verkauften und nicht an die sonst üblich eingeschränkten Öffnungszeiten gebunden waren.

Den Kaufrufern folgten etwa seit dem Biedermeier auch Musikanten, die der weinseligen Stimmung den Feinschliff verliehen. Vom Dudeln - der Wiener Form des Jodelns - über Schrammelmusik, Harmonika, Kontragitarre bis zum Zitherspieler bietet die Heurigenmusik eine breite Palette und somit eine eigene Kulturform.

Heute bringt kaum noch jemand seinen eigenen Proviant zum Heurigen mit, wiewohl dies nach wie vor erlaubt ist. Längst bieten die hauseigenen Heurigenbuffets alles was das Herz begehrt und mehr. Im Unterschied zu vielen Heurigenregionen außerhalb Wiens, werden neben dem kalten Buffet auch warme Speisen geboten.

An kaum einem anderen Ort als beim Heurigen mischen sich mit einer derart selbstverständlichen Niederschwelligkeit lebhafte Familien, gesellige Senioren, verliebte Paare, grantelnde Einzelgänger, geschäftige Geschäftsleute, leutselige Politiker und mehr. Kurzum, jeder ist willkommen und findet sein Platzerl.

Wenn man ganz genau wissen will, was formal einen Wiener Heurigen ausmacht, lohnt sich ein Blick in das Wiener Buschenschankgesetz. Grob skizziert, darf ein ,echter‘ Buschenschank nur selbst gekelterte Weine, dessen Trauben auch tatsächlich im Stadtgebiet von Wien gewachsen sind, ausschenken. Das Heurigenlokal muss auf Betriebsgelände gelegen sein und vom Winzer selbst betrieben werden. Dem Trend folgend erlaubt das Gesetz seit einigen Jahren, dass in der warmen Jahreszeit auch im Weingarten selbst ausgeschenkt werden darf. Diese ‚Pop-up-Buschenschanken‘ im unvergleichbaren Ambiente erfreuen sich äußerster Beliebtheit und locken neues Publikum zum kalten Buffet.

Sogar die Beschaffenheit des berühmten Reisigbuschen, der markiert, dass ,ausg‘steckt is‘, findet Abbildung in der gesetzlichen Vorgabe.

Genau definiert sind auch die Heurigengebiete am Stadtrand Wiens.

Diese Eigenschaften und mehr unterscheiden einen ,echten‘ Heurigen vom gewerblich geführten Gastronomiebetrieb, der das Heurigenambiente zwar imitiert, jedoch in der Struktur weit weg vom traditionellen Winzerbetrieb ist. Mangels Schutzes des Begriffs ist es Gewerbebetrieben gestattet, sich als Heuriger zu bezeichnen.

Beim echten Heurigen wirkt auch noch heute meist die gesamte Familie mit. Der Winzer/die Winzerin ist Weinbauer, Gastgeber, Koch und Kellner in Person. Töchter werden zu Weinköniginnen gekürt, und das Liptauerrezept der Urgroßmutter wird strenger als die Cola-Formel gehütet.

Der Wiener kann zu Recht stolz sein auf das Kulturgut ‚Wiener Heuriger‘. Handelt es sich doch um ein Phänomen, dessen einzigartige Atmosphäre geprägt ist vom Wiener selbst – seinem Hang zu Genuss, Gemütlichkeit und Geselligkeit.

Anmerkung: Um Begrifflichkeiten klarzustellen: als ,Heuriger‘ bezeichnet man sowohl den aktuellen Wein der Saison als auch die vom Winzer betriebene Buschenschank.

Der Weinbau hat in Wien lange Tradition. Mit der Gründung Vindobonas durch die Römer, wurde hierorts auch der Weinbau etabliert.

Heurigenlokale, wie sie uns heute ein Begriff sind, entstanden ab 1784 per Zirkularverordnung von Kaiser Josef II. Darin wurde sinngemäß jedem die Freiheit eingeräumt, die von ihm selbst erzeugten Lebensmittel, Wein und Obstmost wie, wann und zu welchem Preis er will, zu verkaufen und auszuschenken.